Das Virtuelle ist echt: Ein Anthropologe erforscht die Kultur von Second Life
Wie gehen Second Life User mit dem Tod eines Bekannten um? Welchen Stellenwert haben Partnerschaften und Hochzeiten, Trauerfeiern oder religiöse Veranstaltungen? Wie sind Familien in Second Life strukturiert, Firmen oder Interessensgruppen? Welche sozialen Normen gibt es? Wie läuft die Rezeption von Musik, Radio oder Video in Second Life ab? Welchen Stellenwert hat das Erschaffen von 3D-Konstruktionen? Welche Bedeutung hat Landbesitz? Das sind einige der Fragen, auf die der Anthropologe Tom Boellstorff in seinem Buch "Coming of Age in Second Life" mit wissenschaftlicher Präzision und viel Liebe zum Detail Antworten gibt.
Vom Totem zum Furry
Als Boellstorff im Jahr 2004 Second Life entdeckte, war die virtuelle Welt mit 5000 Einwohnern vergleichsweise klein. Heute zählt sie nach Myspace und Facebook zur drittschnellst wachsenden Internetcommunity. Die Zahl der in Second Life genützten Voice-Chat-Stunden entspricht etwa der von Skype. Boellstorff, den ich ebenfalls per Voice Chat in Second Life interviewt habe, sagt: "Wann immer du dir eine Kultur ansiehst, sei es Indonesien, Österreich, Second Life oder eine bestimmte Stadt: Du wirst allgemeine Wertvorstellungen und Praktiken finden und dann auch Subkulturen."
Eine solche Subkultur bildet in Second Life etwa die Furry Community, deren Protagonisten gerne in anthropomorphen Tiergestalten erscheinen. Stets beschreibt der Forscher, welche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen innerhalb der jeweiligen Subkultur in Second Life neu sind, stellt dann aber auch Querverbindungen her zu früheren Kulturen im Internet einerseits (im Fall der Furries zum Beispiel zu Furcadia), sowie zu jahrtausendealten menschlichen Zivilisationen andererseits. "Furry Culture, wie wir sie heute kennen, lässt sich einige Jahrzehnte zurückführen auf Cartoons: Mickey Mouse oder Robin Hood in Gestalt eines Fuchses. Dann aber gibt es auch eine Identifikation des Menschen mit Tieren, die sich einige Jahrtausende zurückführen lässt, etwa auf den Totemismus. Die jahrtausendealte Tradition der Identifizierung des Menschen mit Tieren findet in virtuellen Welten eine Fortsetzung: Menschen haben einerseits die Fähigkeit, diese anthropomorphen Avatare zu gestalten und zu benützen, und andererseits die Möglichkeit, damit Gleichgesinnte kennenzulernen."
Tom Boellstorff
Boellstorff, der auch an der University of California unterrichtet, hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Sein erstes trug den Titel "Indonesia: The Gay Archipelago". Um ein realistisches ethnographisches Bild von Second Life wiedergeben zu können, hat er auf die gleiche Weise in der virtuellen Welt gelebt und geforscht, wie er es zuvor in Indonesien getan hat. So beschreibt er, wie er an einer Elementary School in Second Life unterrichtet hat. Seine Schüler: dreißig Kinder-Avatare, die mit virtuellen Papierkugeln und Kreidestücken herumwarfen.
"Ich beschloss, etwas zu lehren, was mit großer Wahrscheinlichkeit keiner der Schüler beherrschen würde: die indonesische Sprache. Mich hat fasziniert, wie schnell die Kinderavatare bereit und fähig waren zu kommunizieren. Zuerst benutzten sie indonesische Sätze, um Dinge zu sagen wie 'Susi ist doof', während sie mit Kreide warfen. Dabei habe ich bemerkt, wie sehr sich Second Life eignet, um eine unterhaltsame Umgebung zu schaffen, die es ermöglicht, die Ressourcen des eigenen inneren Kindes anzuzapfen und damit wirklich sehr viel zu lernen. Und verglichen mit meinem Experiment vor drei Jahren ist heute eine enorme Zahl an Schulen und Universitäten in Second Life zu finden.Wir beginnen mehr und mehr zu verstehen, welche Möglichkeiten uns virtuelle Welten bieten, um Bildung auf neue und interessante Weise zu gestalten."
a.k.a. Tom Bukowski
The Age of Techne
Immer wieder taucht bei Boellstorff der Begriff "Techne" auf: Das altgriechische Wort steht für Kunstfertigkeit, Handwerk. Der Forscher spricht von einem Zeitalter der Techne, das sich auch auf Grund virtueller Welten anbahnt. "Wir sprechen immer wieder vom Informationszeitalter. Vom Wissen, also Episteme. Gerade in Second Life aber zeigt sich, wie sehr es auf Techne, auf das Erschaffen von Dingen ankommt." Gemeint sind Computerprogramme, 3D-Konstruktionen, Musik. Aber: Ist diese virtuelle Kunstfertigkeit nicht sehr weit weg von dem, was Platon und seine Kollegen mit Handwerk und Kunstfertigkeit gemeint haben?
"Ich vermeide es, die Begriffe virtuell und real gegenüberzustellen. Eine solche Unterscheidung würde bedeuten, davon auszugehen, dass es in unserer Welt keine Computer gäbe. Keine Telekommunikation, kein Telefon, keine Sprache." Stattdessen stellt Boellstorff dem Wort "virtual" die Begriffe "actual" oder "physical" gegenüber. In der pyhsikalischen, wie auch in der virtuellen Welt schaffen Menschen Kunst, schreiben Computerprogramme, machen Geschäfte, verlieben sich. "Unser Gespräch jetzt gerade ist real", sagt Boellstoff, während ich ihn in Second Life interviewe.
Der Untertitel seines Buches lautet: "An Anthropologist Exploring the Virtually Human". Der Autor beschreibt menschliche Kultur, ihre Geschichten, Musik oder Höhlenmalereien als Vorläufer dessen, was wir heute in virtuellen Welten tun. Der Titel "Coming of Age in Second Life" selbst ist wiederum eine Anspielung auf das 1928 veröffentlichte Buch "Coming of Age in Samoa". Margaret Mead hat darin vor allem mit interkulturellen Vergleichen zwischen Jugendlichen in Samoa und den USA Aufsehen erregt und das Bild der modernen Anthropologie bis heute geprägt. Tom Boellstorffs Buch "Coming of Age in Second Life" hat gute Chancen, für die nächsten Jahrzehnte das Standardwerk der Anthropologie virtueller Welten zu werden.
Erschienen ist "Coming of Age in Second Life" im April 2008 bei: