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New York | 17.12.2008 | 11:22 
Süß/saure Geschichten aus dem Big Apple

Rotifer, Matthews, Ondrusova

 
 
Marnie Stern
  Allein zu Hause (mit Gitarre)
 
 
 
 
 
  Marnie Sterns Apartment riecht abgelebt. Drei Schoßhunde tollen auf einem hässlichen 80er Jahre Sofa herum. My parents bought it. Überquellende Aschenbecher am Boden, auf Tischen und Schränken. Im raucherfeindlichen New York wirken sie wie Relikte einer versunkenen Kultur. Die Aschingers sind Wegstationen des Alltags, die Marnie mit einer ihrer E-Gitarren ansteuert, um stundenlang davor zu kauern und zu proben. Marnie geht nur selten aus. Mitten in Manhattan führt sie das Leben einer Eremitin.

Ein typischer Tag in meinem Leben? Ich schlafe lang, weil ich nicht schlafen kann. Dann mit einer Kanne Kaffee an die Gitarre. Eine Zigarette nach der anderen. Stundenlang. Bis ich schlottere. Später ein Bier zum Runterkommen. Ein bisschen Fernsehen. Ein Freund ruft an. Ob ich noch Lust auf Ausgehen hätte? I don't think so.

Zum Rauchen öffnet Marnie die Balkontüre oder steigt raus auf die kleine Halbinsel aus Beton. Vom 16ten Stock aus hat man einen herrlichen Blick auf den südöstlichen Teil der Upper East Side. Die Yellow Cabs auf der First Avenue wirken so klein wie die Spielzeug-Taxis, die in China Town um ein paar Dollar an Touristen verhökert werden.
 
 
 
 
 
  Upper East Side klingt nach Reichtum, Lincoln Limousinen und Andy Warhols Townhouse, nach Museumsmeile (Metropolitan, Guggenheim, Cooper Hewitt Of National Design ...), nach stolzen Doormen und dem angrenzenden Central Park. Und auch ein bisschen nach Exzentrik als Existenzgrundlage - file under 'The Royal Tenenbaums' und Woody Allen.

Das mit der Exzentrik bekommt die 32jährige Stern ganz gut hin. Einen stolzen Doorman hat der Skyscraper auch. Doch der Reichtum wohnt hier nicht. Seit ihrer Kindheit lebt Marnie in der geräumigen Wohung, unterbrochen von kurzen, frustrierenden Ausflügen in die Lower East Side. Die Einrichtung stammt noch aus der Zeit, als ihre Eltern verheiratet waren. Eine grelle Farbattacke Jahre später konnte das hässliche Sofa auch nicht verschwinden lassen. Und doch: Dieses Apartment hat etwas Wunderschönes. Der Ausblick, die Umgebung beeindrucken mich, den Brownstoner aus Brooklyn. Uplifting.
 
 
 
 
 
  Marnie zeigt uns ihre Elektrischen. Die stehen im Schlafzimmer der Wohnungsgenossin herum. Da wären ihre erste E-Gitarre, ein türkiser Danelectro-Nachbau, den sie mit 23 gekauft hat und noch immer spielt, eine silberne Flaxwood, eine Maßanfertigung von Scott French mit Paisley Muster in Pink samt aktiver Pick-Ups, eine alte Fender und die doppelköpfige Schlange namens Epiphone Doubleneck, Sinnbild größenwahnsinnigen Muckertums zahlloser Reserve Jimi Pages.

Wieder im Wohnzimmer. Marnie demonstriert die Technik des Tapping. Entwickelt und verfeinert von Saiten-Virtuosen wie Eddie Van Halen oder der langjährigen Michael Jackson Gitarristin Jennifer Batten versteht man darunter die eilige Aneinanderreihung von Triolen. Beide Hände beackern das Griffbrett, Finger sausen wie tanzende Derwische über die Bünde. Am Ende steht ein Schwindel erregendes Turbosolo, das dem zweiten Josef ein weiteres "zu viele Noten!" entlockt hätte und im Gesicht der meist männlichen Gitarrewürger ein geiles Grinsen hinterlässt, weil die Fanscharen staunen wie offene Hosentürln. File under '80er Metal mit Banane in der Spandexhose'.

Erwartungsgemäß nichts davon bei Marnie Stern:

Ich habe mich nie für Metal oder das Tapping von Eddie Van Halen und Yngwie Malmsteen interessiert. Ich bin auch überhaupt nicht die Gitarren-Virtuosin, als die mich einige Medien darstellen. Mein Ansatz kommt eher von Noise-Bands wie Lighting Bolt, Ponytail oder Hella. Technisch bin ich alles andere als perfekt.
 
 
 
 
 
  Stern, die sich das Gitarrenspiel selbst beigebracht hat, nimmt dem Solo die Klimax-Stellung und verwendet es als formgebende Struktur für ihre Musik. Im Zusammenspiel mit dem rasenden Drummer und Producer, Zach Hill, ergibt das einen hyperventilierenden Noise Rock, der mittels Marnies schrillen Gesang für zusätzliches Post-Espresso-Feeling sorgt (drei Doppelte in einer Stunde).

Die 32jährige hasst zwar Genres, aber wer weiß, vielleicht geht sie eines Tages als Erfinderin des Coffein-Hardcore in die Analen der Rockgeschichte ein. Ihr Sound ist jedenfalls sehr eigenwillig, so wie ihr Zugang zum Spiel.

Auf das Tapping ist Stern eher zufällig gestoßen. Früher hat sie erfolglos Folk gespielt. The only guys showing up were my two roommates. Dazwischen gibt es keine nennenswerte Verbindung außer den endlosen Sessions im Apartment.

Fingerfertigkeit und Virtuosität sind ihr dabei herzlich egal. Dem Material hört man an, dass es nicht unbedingt beeindrucken will. Das bedeutet aber nicht, dass diese hochenergetische Musik weniger egomanisch wäre, als die des Heavy-Virtuosen am Verlängerten.

Stern betreibt Autotherapie. Die Songs der beiden Alben sind Selbstermächtigungs-Pamphlete, die gelegentlich vom Traumwandeln durch Fantasiewelten verdrängt werden, falls mal Zeit zum Durchatmen bleibt.
 
 
 
 
 
  Die Aufforderung aus sich herauszugehen, die Enge der durch Neurosen und Ängste klein gejammerten Existenz zu sprengen, durchziehen Sterns Werk. Immer wieder kehrende und in Cheerleader Manier vorgetragene Phrasen wie "Nothing can stop it" ('Steely') oder "The future is yours, so fill this part in" ('Transformer') erleben Rückschläge, wenn Marnie beklagt "I can't sleep!" ('Ruler', 'Simon Says'), oder wenn sie sich nach einer erschöpfend ergebnislosen Session Mut zuspricht: "I can't find what's real, but I know it's in me' ('Roads').

Wer in diesem heavy Bootcamp ein Album lang mitlaufen will, wird feststellen, dass sich nach einer Weile eine etwas ermüdende Redundanz einstellt. Der aktuelle, von der US-Kritik hoch gelobte Longplayer This Is It ... (Label 'Kill Rock Stars'), bietet einige großartige Songs ('Ruler', 'Transformer' oder 'Crippled Jazzer') die jedoch in der gleichförmigen Umgebung etwas verpuffen.

Aber Marnie ist ohnehin noch nicht so weit, wie sie im Gespräch meint. Die aktuelle Platte sei fast schon so etwas wie ein "sell out" und viel zu poppig. Aha. Andererseits möchte Stern dann doch das Songwriting verbessern. Okay ... Alles gute Gründe, auch weiterhin inmitten von Gitarren, Tschik-Vasen und Hunden zu sitzen und zu probieren bis ein Freund anruft. Ausgehen? Heute? I don't think so.
 
 
 
 
 
  Zum Abschluss noch einmal kurz raus auf den Balkon und rein in die Lärmkulisse der Rushhour.

Jetzt weiß ich, woher's kommt.
 
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