Clara Trischler lebt derzeit in Israel, wo sie sich im Dokumentationsarchiv des Holocaust Memorial Yad Vashem durch letzte Postkarten, Liebesbriefe, Geburtsurkunden, Zeugenaussagen und Meldescheine, was von einem Leben bleibt, von Opfern der Shoah wühlt um Sterbedaten, geglückte Fluchten und illegale Beziehungen zu rekonstruieren. Sie erzählt an dieser Stelle über israelische Alltagsbeobachtungen.
"Gauß blickte sich um. Die Straße lag ruhig im Sonnenschein, ein Bäcker trug einen Brotkorb vorbei, über dem Kirchendach funkelte träge das Blech des Wetterhahns. Es duftete nach Flieder. Krieg?" (Daniel Kehlmann: "Die Vermessung der Welt")
Erst, wenn man ein bisschen an der Oberfläche kratzt, enttarnt sich die unberührte Alltäglichkeit im jüdischen Westjerusalem für kurze Momente.
J. hat einen Tag Fronturlaub.
Seine Freunde kochen in der gemütlichen Wohnung und essen zu Abend. Er hat sich beim Armeeeintritt vor zwölf Tagen eine Einwegkamera gekauft und fotografiert gewählte Lieblingsmenschen. Im Club "Sira" gibt es dann Probleme: Er darf mit seinem Gewehr nicht hinein, das er aber zu jeder Zeit beaufsichtigen muss. Wir verstauen es in meiner nahe gelegenen Wohnung, wo ich auf der Waffe bei näherer Betrachtung "Property of the U.S. Army" lese.
Bei der wöchentlichen Demonstration in Tel Aviv nennt ein Polizist am Telefon die DemonstrantInnen lauter als geplant "trash of the country".
Eine etwa 60-jährige politische Aktivistin erklärt mir: "Manche finden, dass wir den Frieden schon versucht haben, mit dem Oslo-Abkommen, mit dem Abzug aus Gaza."
Ich kann nicht aus Gaza erzählen.
Um mich der Vorstellung, unter steter Bombardierung zu leben, anzunähern, lese ich Zena El-Khalils Blog. Sie ist Malerin in Beirut und hat im Libanon-Krieg vor zweiundhalb Jahren im Internet Tagebuch geführt.
"Friday, July 21, 2006
i still can not believe all this. it was only 2 weeks ago that i was in Sour (Tyr) enjoying a cold Almaza (local beer), watching jelly fish wash up on the public beach down there. i was there with Amanda, who is now safely out of the country. I was showing her how close by Israel was... little did we know. it was a good day. we drank beer, ate a whole plate of greasy french fries and laughed a lot.
today Sour is one fire. today Sour is hell on earth. there are still so many people trapped in the city. no way to leave or enter. no way to call loved ones."
Am Jerusalemer Paris Square treffen sich seit 1988 wöchentlich "Women in Black", schwarzangezogene Frauen, die gegen Gewalt, Militarismus und Krieg demonstrieren.
Eine junge Amerikanerin durchquert den Platz "buh" schreiend und kommt mit einer der Frauen ins Gespräch. "Am ersten Tag, an dem wir ihnen ihr Land gegeben haben, haben sie begonnen, Raketen auf uns zu schießen!" Auch ein 18-jähriger orthodoxer Jude konfrontiert die Demonstrantinnen, "ich lebe in einem Raketenbeschuss-Gebiet". Ein anderer fragt, warum nicht auch Ägypten humanitäre Hilfslieferungen in den Gaza-Streifen leisten könnte.
Ein österreichischer Freund, der vor einer Woche im Norden Israels um 07:30 von einer Rakete aus dem Libanon aufgeweckt worden ist, die 200 Meter weiter in seiner Straße eingeschlagen hat, verlässt jetzt das Land.
Das "Orion" war einmal ein Kino. Nach vermehrten Selbstmordattentaten in den Fußgängerzonen des Stadtzentrums von Jerusalem haben sich (Lichtspiel-)Theater in die Außenbezirke verlagert.
Absurde Schönheit
Am Telefon erzählt mir J. von der absurden Schönheit der sprühenden Bomben am Himmel über Gaza. Dass sie weiterhin außerhalb von Gaza warten, so provisorisch, dass es nicht einmal Zelte gibt, sondern in Schlafsäcken im Freien geschlafen wird.
Ich erinnere mich, wie wir uns nach seinem Fronturlaubstag verabschieden und er ganz langsam in seiner weiten Soldatenhose die Stufen hinaufsteigt, das Gewehr hängt schwer in seinen Schritten, er sieht sich nicht um, nur dann kurz zum Schluss. Er geht in eine so andere Welt als wir, die wir uns am nächsten Tag Sandwiches machen und im Bus lesen und aus dem Fenster schauen und wenn wir einmal gar nicht mehr wollen, einen ganzen Tag in der Cinematheque einschließen. Alle zehn Minuten eine Bombe, sagt er und dass man sich daran gewöhne, auch im Schlaf.