Es war irgendwann Ende der 80er Jahre, da kam Freund Andi und erzählte von dieser neuen Band aus Seattle. Seattle, Washington, die Stadt von Mudhoney, von TAD, vom Sub Pop Label und von seiner Musik, Grunge. Freund Andi war sonst eigentlich auf der anderen Seite des Kontinents musikalisch zu Hause gewessen, seine große Leidenschaft war alles, was sich in und um Washington D.C. abspielte: Dischord Records und Fugazi, Minor Threat, Rites of Spring, auch Scream, von denen später noch die Rede sein wird.
Die Band aus Washington State hieß Nirvana, sie war auf Tour mit ihrem ersten Album, im Vorprogramm von einer anderen Seattler Band, und sie spielte im Circus Gammelsdorf. Gammelsdorf ist ein Kaff 50 km nördlich von München, irgendwo zwischen Freising und Landshut, mit ein paar hundert Einwohnern und Kuhfladen auf der Straße, und der Circus ist ein altes Kino, wo regelmäßig die wilden langhaarigen Horden aus der Großstadt eingefallen sind, um wilden langhaarigen Amerikanern beim Lärm machen zuzuschauen. Die (damals noch wilden und vielleicht immer noch langhaarigen) Soul Asylum, die unvergleichlichen Moving Targets, oder eben diese Band aus Seattle, mit dem esoterischen Bandnamen und der Platte, die Freund Andi als "voll genial und super melodisch" bezeichnet hatte. Der Gammelsdorfer und die Gammelsdorferin jedenfalls ertrugen die wilden Horden mit einem mildem Lächeln.
Ich musste an besagtem Abend arbeiten, im Substanz, Münchens Zwischending aus Chelsea und U4, und habe so die Gelegenheit verpasst, jetzt behaupten zu können, ich hätte Nirvana schon vor ihrer Hitparadenattacke erlebt. Ein bisschen ist das aber dann doch möglich geworden: Da war dann, ein Jahr oder so später, dieser Kneipenhit: "Sliver", von dem ich immer noch nicht weiß, wie man ihn genau ausspricht, und der hörte sich schon damals an wie: Hallo Major Labels, wir haben Hit-Potenzial. Und nebenbei eröffnete er wohl auch Freund Andi, dass Nirvana es noch ein paar Stufen melodischer konnten als auf "Bleach". Nach dem dritten Mal hören bin ich jedenfalls sofort in den Laden und hab mir die "Sliver" Maxi geholt. Heavy Rotation auf dem Haidhausener Heimplattenspieler.
Nun war ja Grunge schon einige Zeit das upcoming thing, Seattle oder besser das Sub Pop Label schon länger das Zentrum amerikanischen Musikschaffens gewesen. Sub Pop hatte gemeinsam mit Amphetamine Reptile Records (Melvins, Boss Hog, Helmet) die Kalifornier SST (Hüsker Dü, Dinosaur jr.) als aller Menschen Lieblingslabel abgelöst. Nirvana waren dabei allerdings eher unter ferner liefen - außer bei Freund Andi, und bis zu "Sliver". Die "großen" Sub Pop Bands waren Mudhoney und TAD aus Seattle, die Supersuckers, L7 (die alle liefen unter der Genrebezeichnung "Grunge", Schubladen waren wichtig!) aber auch die Alternative-Country-Hippies von den Walkabouts, oder Weirdos wie Beat Happening oder Codeine.
Sliver
Das Nirvanasche Anklopfen beim Major hatte ziemlich bald Erfolg. Allerdings lief der Industrie-Deal über einen Umweg: Geffen übernahm den Vertrieb für das (gerüchtemäßig kurz vor der Pleite stehende) Sub Pop Label und bekam dafür die hoffnungsvollsten Sub Pop Acts, wie eben Nirvana.
Und dann kam "Nevermind", und es kam "Smells Like Teen Spirit", und die Ereignisse überschlugen sich: Nummer eins in Amerika war zuerst ein Gerücht, von dem man nur langsam etwas mitbekam - schließlich waren Charts so ziemlich das letzte, was uns interessierte. Ich erinnere mich an ein Konzert, bei dem die Münchner Lokalmatadoren Hell Hinkel lange Röcke anzogen und "Smells Like Teen Spirit" als erste Nummer spielten - viele meiner Freunde kannten den Song noch gar nicht und Nirvana nur vom Hörensagen, obwohl Teen Spirit zu dem Zeitpunkt schon Nummer eins war in Amerika.
Thomasso, einer der Freunde von Dave Grohl aus dessen Zeiten bei Scream, hatte eine Kopie der Billboard Charts hinter die Theke im Substanz gehängt. "No.1 - Nirvana - Smells Like Teen Spirit" stand da unwirklich, aber schwarz auf weiß.
Ich erinnere mich noch an den Moment, als ich zum ersten Mal das Video zu "Smells Like Teen Spirit" auf MTV gesehen habe: in der Klamottenabteilung in irgend einem Kaufhaus. Sofort aufgefallen ist mir - neben den aufgenähten Anarchie-A's auf den Kleidern der Mädchen, sehr adrett! - das Scream-T-Shirt des Schlagzeugers. Ich habe das selbe.
Dann die erste Bravo mit Nirvana-Bericht und das erste Nirvana-Bravo-Poster, das ich dann im Substanz aufgehängt habe. Oder der Moment, als ich "Smells Like Teen Spirit" zum ersten Mal im Radio gehört habe: in den Top 10 des Bayrischen Rundfunks, die auch 1991 noch "Schlager der Woche" hießen und auch dementsprechend präsentiert waren.
"Nirvana aus Seattle" hieß die Band beim Moderator, kam glaub ich von 0 auf Platz 4 (oder gleich auf 1?), und ich habe die Stereoanlage im Wohnzimmer meiner Eltern voll aufgedreht. Das erste Eindringen "meiner" Musik ins elterliche Wohnzimmer (auch wenn meine Mutter mich "diesen Lärm" natürlich sofort abdrehen ließ).
Was dann folgte, war Verwirrung. Nichts war mehr wie vorher. Vorher, da war es wichtig gewesen, sich abzugrenzen vom Mainstream. Die laute Musik, die kein Mensch ertragen konnte (außer uns). Jetzt plötzlich, mit Nirvanas "Nevermind", war alles, was wir uns bis dato als Gegenkultur aufgebaut hatten, mit einem Schlag selbst Mainstream. Menschen, die vor meiner Plattensammlung geflohen waren, hatten Nevermind im Plattenschrank. Und Menschen, die wir (oder zumindest ein paar von uns) persönlich kannten, waren Rockstars. Es war irgendetwas zwischen Freude darüber, dass das, wofür man jahrelang gelebt hatte, endlich Anerkennung fand - und der Realisierung, dass genau das damit auch am Ende war. Unsere Musik war als dissidente Abschottungsstrategie mit Nevermind tot. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob ich das heute, zehn Jahre später, ganz verkraftet habe.
Komischer Weise haben wir Nirvana das alles verziehen. Waren noch ein paar Jahre vorher, als die ersten Hardcore, Indie, Punk, Grunge-Bands zu Majors wechselten, die meisten ziemlich entsetzt gewesen ob des Ausverkaufs der heiligen Indie-Werte, so waren wir uns diesmal einig, dass Nevermind es verdient hatte, dort zu stehen, einfach weil es ein verdammt gutes Album war. Jeder meiner Freunde hat es sich gekauft, und die musikalische Pioniertat von Nirvana war es wohl, dass sie sich als erste getraut haben, hoffnungslos eingängige Hooklines in ihre Songs einzubauen, und trotzdem ein großartiges Underground-Album hinzulegen, das weder in peinliche Pop-Punk-Späße á la Green Day (auch die gabs damals schon), noch in gnadenlos kommerzielle Mainstreamtauglichkeit in der Art der neuen Soul Asylum-Alben abdriftete. Nein, Nevermind war (und ist) einfach ein saugutes und ein saucooles Underground-Rock- oder meinetwegen Punk-Album (ihr merkt schon, ich tu mir mit der Terminologie immer noch so schwer wie damals).
Nirvana selber, und vor allem Kurt Cobain, haben wohl wesentlich mehr am eigenen Ausverkauf gelitten als ihre "Szene" im fernen Europa. Vielleicht waren die amerikanischen Independent-Wächter auch gnadenloser. Das Ergebnis ist jedenfalls bekannt, Kurt Cobain ist an diesem Zwiespalt schließlich gescheitert.
Ach ja, persönlich habe ich dann auch noch einen der neuen Rockstars kennen gelernt. Nach dem zweiten Nirvana-Konzert in München, diesmal in der Stadt in einer Halle für immerhin ein paar tausend Leute, kam Kris Novoselic ins Substanz, und wir haben mit ihm getrunken bis irgendwann. Ich habe allerdings nicht viel mit ihm gesprochen, und Telefonnummern ausgetauscht schon gar nicht.
"Bleach" habe ich mir dann kurz nach "Nevermind" gekauft, als Re-Issue. Die Nirvana-Platten nach Nevermind habe ich mir nicht mehr gekauft. Eine hab ich auf Cassette, ich habe sie vielleicht ein, zweimal gehört der so. Mit MTV unplugged kann man mich eh jagen, egal ob von Nirvana oder sonstwem. "Nevermind" ist jetzt schon lange nicht mehr auf meinem Plattenteller gelegen, obwohl sich das Album nie totgespielt hat.
Vom Nirvana-Konzert im Circus Gammelsdorf kann man mittlerweile die Setlist und andere Infos im Internet nachlesen, und dass es (natürlich) ein Bootleg von dem Auftritt gibt. Der Circus Gammelsdorf selbst ist Mitte der Neunziger Jahre abgebrannt und, trotz vermuteter oder offensichtlicher Brandstitung, nach Nachbarprotesten nicht wieder aufgebaut worden. Das Substanz ist, gemeinsam mit Nirvana wie so vieles anderes, zum Kult aufgestiegen, war eine Zeit lang Münchens angesagtestes (und auch interessantestes) Lokal, und ist irgendwann wieder in der Normalität gelandet. Eine Underground-Szene, die interessante Bands hervorbringt, gibt es seit Nevermind nur mehr sehr marginal. Seit damals signen Major Labels jede Band, die auch nur ansatzweise eine Gitarre halten kann, wenn sie sich nur schön undergroundig und rebellisch gibt. Schulbands spielen nicht mehr Bluesrock oder Beatlescovers seit Nevermind. Das ist ja zumindest auch schon was wert.
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