fm4.ORF.at ORF.at login
StreamPodcastsMail an FM4
zurück zur TitelseiteSOUNDPARK - Your Place for Homegrown MusicSTATION - alles rund um den RadiosendernotesCHAT
Wien | 6.12.2008 | 10:49 
Twilight Zone: Musik-, Film-, Comics & more aus den schummrigen Gebieten des Pop.

Rotifer, Blumenau

 
 
Decemberlist, Sechs
  David Holmes 'The Holy Pictures'


Ich weiß nicht, ob sich viele von euch noch an die musikalischen Trennungslinien erinnern, die die Neunziger durchzogen haben. So wie der Papa nicht aufhört, vom Krieg zu erzählen, pflege ich manchmal an die künstlerischen und ideologischen Schlachten zu erinnern, die damals gefochten wurden.

Nachdem der Anfang der Dekade den Gitarren und den dazugehörigen frustrierten, wütenden und (selbstmit-)leidenden Menschen gehörte, die mit ihnen über die Bühne tobten und torkelten, drängte schon bald die Elektronik in all ihren Facetten ins Rampenlicht. Eben dort, unter den Scheinwerfern, saßen dann bisweilen konzentrierte Musikakademiker mit der Maus in der Hand, der Laptop wurde als revolutionäre Wunderkiste gefeiert, während man den Rock als Spielwiese eitler Poseure und muffiger Nostalgiker verdammte.

Als jemand, der sich immer schon zwischen allen Stühlen verortete, der Genres ebenso misstraut wie Lagerbildungen, ging mir diese ganze Diskussion schrecklich auf die Nerven. Gleichzeitig faszinierte mich ja beides, der Nix-Scheißen-Spirit des Rock'n'Roll ebenso wie all die neuen inspirierenden Festplattensounds.

Statt mich einer Fraktion anzuschließen, suchte ich mir zu jener Zeit Musiker als Seelenverwandte, die störrisch ihren eigenen Weg gingen, sich von überall das Beste mitnahmen und gleichzeitig die Grabenkämpfe zwischen Rockisten, Technopuristen und Laptopfricklern belächelten.

Neben Tricky, James Lavelle, Massive Attack, Primal Scream oder Beck erwies sich in den Nineties dabei vor allem ein Mann als Stylegrenzen sprengender Soulbrother im Geiste: Mr. David Holmes.


 
 
 
 
 
  Der Ire David Holmes ist das, was die Briten "quite a character" nennen. Ein dem Hedonismus alles andere als abgeneigter Ex-Mod, der in Belfast mit seinen legendären DJ-Sets zu den Acid-House-Pionieren der späten Achtziger zählte. Nur um sich am Höhepunkt des ersten Techno-Booms in Richtung funky Downtempo zu verabschieden.

Just in dem Augenblick, als in den Neunzigern der schmoovige Loungehype eskalierte, beschloss David Holmes eine neue Mission: Mitten am Höhepunkt des eintönigen Bumm Bumm und der plätschernden Electronica wollte er die Musik wieder dreckig, fies, verschwitzt und lustvoll machen.

Innerhalb weniger Jahre infizierte Holmes die halbe Entertainment-Industrie mit seinem Soul-Punk-Virus, mit Alben wie 'Bow Down To The Exit Sign' oder Projekten wie der Free Association. Bis schließlich auch Regisseur Steven Soderbergh auf den wilden Mix aus Gospel, Electro, Blues, Hip Hop und Garagenpunk aufmerksam wurde.
 
 
 
 
 
  Seit David Holmes kongenial den George-Clooney-Thriller 'Out Of Sight' vertonte, meldete sich Steven Soderbergh regelmäßig bei dem DJ-Godfather aus Irland. Und weil ein Job als Soundtrackkomponist für Blockbuster wie 'Ocean's Eleven' bis 'Ocean's Thirteen' schon mal als Lebensaufgabe und zur Zahlung der Miete reicht, verabschiedete sich Herr Holmes aus dem normalen Popbusiness.

Glücklicherweise wurde dem guten Mann das Abhängen in Luxushotels und das Cocktailnippen mit Clooney & Co. aber langweilig. Plötzlich tauchte heuer ein neues David-Holmes-Album auf, beinahe aus dem Nichts. Und es enthält keinen einzigen der groovy Beats und swingenden Rhodes-Klänge, mit denen er Danny Oceans Diebstähle untermalt hatte.

Der wunderbar unberechenbare David Holmes überrascht auf 'The Holy Pictures' wieder mit ganz anderen Facetten.
 
 
 
 
 
  Flirrende Gitarren fallen als erstes auf, die, in vielen Schichten aufeinandergelegt, an Achtziger-Shoegaze-Größen wie My Bloody Valentine erinnern. Wobei bei Mr. Holmes die Feedbackwände immer einschmeichelnd daherkommen und nie die Grenze zum White Noise überschreiten.

Und dann ist da der rhythmische Unterbau. Das Samplen und Zerschneiden dieser ganz bestimmten, organisch klingenden Hip-Hop-Beats überlässt David Holmes heute seinen Nachfolgern wie Danger Mouse oder Mark Ronson. Glücklicherweise, finde ich.

Denn 'The Holy Pictures' kommt überhaupt ohne Referenzen an die mittleren bis späteren Neunziger aus.

Wie viele meiner aktuellen Lieblingsmusiker wird Holmes stattdessen drumtechnisch beim Krautrock der late Sixties und frühen Seventies fündig, es ist dieses herrlich monotone Getrommel, das man auf Platten von Neu! oder La Düsseldorf findet, das sich durch einige Songs seines neuen Albums zieht.

Manchmal, wie im fantastischen 'Love Reign Over Me', tuckert aber auch einfach nur eine billige alte Drumbox dahin, die fast von den Electro-Urvätern Suicide stammen könnte. Dazu gibt es ein paar Keyboards, einen warmen Bass, das reicht völlig. 'The Holy Pictures' lebt, trotz etlicher Gitarrenschichten, von einer erfrischenden Sparsamkeit.
 
 
 
 
 
  Dieses fantastische Album lebt vor allem aber auch vom Mut des David Holmes, sich auf keinen seiner zahlreichen Celebrityfreunde als Gästsänger zu verlassen. Sondern sich einfach zum ersten Mal selber vors Mikrofon zu stellen.

Monatelang, erzählt er in Interviews, probierte er alleine im Studio eingesperrt, einen eigenen Ausdruck zu finden. Lächerliche Kleinigkeiten wie die exakte Tonhöhe oder ein besonders kraftvolles Stimmvolumen, das sei verkorksten Castingshow-Fans ins Stammbuch geschrieben, spielten dabei keine Rolle.

Dass Holmes genau eine dieser göttlich wispernden, beinahe flüsternden, zärtlichen Anti-Stimmen hat, die immer wieder an seinen Kumpel Bobby Gillespie erinnert, ist natürlich eine perfekte Fügung. Der eigentliche Grund für die späte Gesangsambition sind aber die hochpersönlichen Texte, die er niemandem anvertrauen wollte.

'The Holy Pictures' hat nicht umsonst ein Foto von David Holmes' Eltern auf dem Cover, die in den letzten Jahren verstorben sind. Das Album ist ein Stück Trauerarbeit, ein wehmütiger Blick zurück in die Kindheit, die Jugend, eine Verbeugung des Star-DJs vor seiner rauen Workingclass-Family, eine Konfrontation mit Geburt und Tod.

Melancholie ist allgegenwärtig in den Songs, vom hypnotischen Opener 'I Heard Wonders' bis zum Gänsehaut-Piano-Schlussstück 'The Ballad of Sarah & Jack'. Aber auch in den traurigsten Momenten will dich David Holmes nie hinunterziehen. Ganz im Gegenteil, dieser Mann möchte dich schweben lassen.

'The Holy Pictures', ein kleines, intimes, sentimentales Meisterwerk, völlig zeitlos und gleichzeitig exakt im Hier und Jetzt verankert.
 
 
 
 
 
Auf abstrakte Weise dazupassend, wenn auch nur beschränkt vergleichbar:
  Alt:
The Jesus & Mary Chain - Psychocandy
My Bloody Valentine - Loveless
Primal Scream - Screamalica

Neu:
Get Well Soon - Rest Well, Weary Head
The Raveonettes - Lust, Lust, Lust
Two Lone Swordsmen - Wrong Meeting II
 
fm4 links
  Decemberlist 2008
Alle Geschichten auf einen Blick
   
 
back
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick