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Wien | 13.7.2008 | 14:30 
Lach- und Sachgeschichten.

Janis, Schoenswetter, Reiser

 
 
Ein Weinglas mit Most
 
 
 
 
  Zum Kerninventar meines elterlichen Haushalts gehört seit Jahrzehnten ein großes Portrait eines Mannes namens Marc Carnal, der mir sehr ähnlich sieht. Schmalzlockenwucher bei zu langer Friseurabstinenz, eine flächentechnisch großzügig arrangierte Stirn, schöne Augen, viel Platz für große Zähne.

So bin ich also irgendwie doch mit Opa aufgewachsen, der selbstbewusste, stolze, aber auch etwas larmoyante Blick begegnete mir täglich, und ich wich ihm nicht aus, war stets fasziniert von dem überlebensgroßen Kopf, fast so, als wäre Verwandtschaft eine naturgegebene und nicht nur eine soziale Verbindung von Menschen.

Wann genau was mit meinem Namensvetter passiert war, wusste ich nie. Mein Vater erzählte nur, dass der seine vom Zug überfahren worden war und er daraufhin, er war damals 20, in einem Amokgleichen Zustand das Elternhaus zu Kleinholz machte.
 
 
 
 
 
  Da kürzlich das Finale des überdurchschnittlich langen irdischen Gastspiels meiner Großmutter stattgefunden hatte, reiste ich mit den Eltern in die Schweiz.

Beim Durchstöbern der Fotosammlungen und Aktenordner der Großmutter stieß ich irgendwann auf eine umfangreiche Dokumentation einer kriminalistischen Miniatur aus den 50ern. Von Zeitungsartikeln über Verhörprotokolle bis hin zu ganzen Urwäldern von Versicherungsschreiben lag da ein Stoß vergilbtes Papier, dessen Lektüre mir die spezielle Tragik der ganzen Geschichte erklärte, damit auch die Wut meines Vaters.

Denn eines geliebten Menschen durch fremde Hand beraubt zu werden, absolut keinen Sinn in dessen Ableben zu erkennen, durch Unachtsamkeit, Dummheit und Zufall einen Teil der eigenen Identität, eine halbe Herzkammer, etwas sehr Zentrales zu verlieren, das ist schrecklich und prägend.
 
 
 
Solothurner Zeitung, 23. Juni 1959
 
 
 
 
Polizeiprotokoll. Zuchwil, 3. Juli 1959, 09.00 Uhr.
 
 
Der Fehler: Der Bahnschranken wurde von Barrierenwärter M. nicht geschlossen.
 
 
Die Folgen: Zwei Tote.
 
 
Ein möglicher Grund: Herr G. vom "alkoholfreien Restaurant Alpenrösli" brachte das Essen zu spät zu Barrierenwärter M. und lenkte ihn so von der Arbeit ab.

Gerüchteweise, die Verwandtschaft ist sich da sicher, hat sich M. jedoch nicht vom Bäckermeister ablenken, sondern sich von einer Frau befriedigen lassen. Seine Geilheit soll Schuld am Unglück sein.
 
 
Barrierenwärter M. zählt auf, was er alles nicht hörte und bemerkte, den Lieferservice vom 'Alpenrösli' führt er gar nicht als Ausrede an. Warum er seinen Aufgaben nicht nachkam, erklärt er nicht. Dadurch nährt er nur das Quickie-Gerücht.

Vor Dienstbeginn genoss er ein "Weinglas mit Most".
 
 
Der schwache Trost: Die mit zwei Zeitungsabonnements abgeschlossene Unfallversicherung bringt Familie Carnal eine bemerkenswerte Summe.
 
 
 
 
  Barrierenwärter M. wurde für seine fahrlässlige Unachtsamkeit angemessen bestraft.

Adelheid Carnal lebte bis 2008 als Witwe und beschränkte ihre sozialen Kontakte auf den täglichen Milchkaffee in ihrem Stamm-'Tearoom'.

Ihre drei Kinder verfolgen bis heute unterschiedlichste Lebenswege, Familientreffen gibt es nur bei Begräbnissen.
 
 
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