Weimar | 21.1.2003 | 18:24 Der alltägliche Wahnsinn geköchelt in kleinen süffisanten
Geschichten, gewürzt mit rockigen Klängen, garniert mit digitalen Weisheiten...
Prolog:
"Gib mir Alles", sagte ich zu Stefan. "Wir sind Freunde geworden, wir brauchen es nicht mehr werden." Ich wollte ein Tourtagebuch. Für euch. Stefan Petermann notierte seine Gedanken und Emotionen während er, Andrea, Antje und eine gemeinsame Freundin die Immergut-Club-Tour begleiteten, um ihren Film "Sonne auf der Zunge" zu präsentieren. Viel Text ist entstanden. Doch 7 Tage, 4 Köpfe erleben nicht nur drei Worte. Es ist alles dabei, was reingehört. Sex, Drugs & Rock'n'Roll. Sex fand zwischen den Zeilen statt. Ihre Droge war die Club-Atmosphäre. Wort ab für Rock'n'Roll.
Der folgende Text ist von Stefan Petermann.
mitte: anfangs - zu hause in der vorfreude +++ rechts: münchen - stadtplanhassen +++ links: slut - zahnauschlagen galore
Montag, 25.11.2002
Weimar im Winter braucht Ferne. An einem frühen, ungewöhnlich sonnigen Montagmorgen kaufen wir hastig Milchgetränke ein, packen Polaroidfilme zu Schlafsäcken, ordnen die CDs, welche uns auf den nächsten 1000 Kilometer begleiten sollen. Auf der Autobahn machen bald schon Raststätten Halt in unserem Kurzeitgedächtnis. Jedem Kilometer schenken wir ein neues Wort. Bis München haben wir ein Buch geschrieben. Diese Stadt hat zu viele Straßen für uns, die sich viel zu oft gegenseitig kreuzen. Dennoch finden wir den ersten Ort der Tour fast problemlos bis auf fast gar nicht. Das Feierwerk ist ein altes Haus, welches sich verzweifelt gegen die umliegende Großbaustelle wehrt. Wir erscheinen pünktlich zum Soundcheck von Slut und werden sofort mit technischen Fragen bombardiert. Als dass wir aufgeregt sein könnten! 500 Leute sehen den Film? Ach, was. Ob die Leute hier wissen, dass in diesen 40 Minuten sieben Monate Arbeit stecken? Nächte im Schnittraum, Momente, in denen alles verloren schien, das Team wie in einem Roadrunner-Cartoon über einem Abgrund stand und nach unten blickte? Das Immergute Gefühl in diese Stadt zu transportieren, ist nicht einfach. Erlend Oye, DJ, Gitarrenmusiker, ein "King Of Convenience" und ständiger Begleiter in diesen Tagen sieht dies ähnlich; empört vom Gemurmel vor der Bühne bricht er seinen Auftritt ab.
Andrea wird später über Slut sagen: "Heute wollten die hart sein." Außerdem wird sie einer Kommilitonin, die extra des Filmes wegen ins Feierwerk gekommen war, einen Zahn ausschlagen. Vollkommen zu recht. Slut in dieser Form wäre auch ein gebrochenes Nasenbein wert gewesen. Ihnen selbst scheint dies bewusst zu sein, da sie ein "Bewerbungskonzert fürs Immergut Festival 2003" spielen. Dazu spricht Sänger Chris mit der gleichen Verve wie andere bekannte deutsche Bands aus dem süddeutschen Raum. Nach der sechsten Zugabe folgt der Appendix zu "It Was Easier". Ein Konzert, von dem ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen kann, dass es übertroffen werden könnte. Danach lösen wir ein paar Radio 4 Poster von der Mädchentoilette und schwören uns, dies Tradition werden zu lassen. Die erste Nacht im Rock`N`Roll Lebensgefühl bricht an.
Das Olympiastation liegt im Nebel, der Verbrauch bei 4.8 Liter und Köln 600minus1 Kilometer von uns entfernt. Dennoch fahren wir auf ausdrücklichen Wunsch des Teams am Geburtstort des Sportfreunde Stiller-Schlagzeugers vorbei. Zeit für die wichtigen Dinge nehmen. Köln ist nett und hat nur eine Straße, was uns die Ankunft im Fabrikgebäude 9 leicht macht. Schlauchartig ist es, schmal, Intro-Intim eben. Wieder waren die Festivalleute schneller als wir, weshalb sie auch aufbauen dürfen. Wir beschließen Sätze wie "Heute mache ich gar nichts mehr. Heute bleib` ich scheiße", sitzen rum und beobachten Leute. Dann spricht Immergut-Daniel seinen berühmten ersten, mittlerweile lieb gewonnenen Filmsatz. Ton und Bild werden nie wieder so perfekt wie heute sein, was die 30 anwesenden Gäste zu schätzen wissen. Am Rand lehnt Rocco Clein, schaut skeptisch auf die Leinwand. Spätestens jetzt wird mir klar, wie selten vermessen unser Vorhaben war. Ich beschließe, dass ich jetzt in diesem Augenblick sterben möchte. Meine Beine zittern im Takt von The Soundtrack Of Our Lives. Nach dem Film sind dennoch alle lieb. Leute wollen das Video für Geld, Hendryk von Intro murmelt was von "Spitzenfilm" und Rocco umarmt uns, wie verschwommen vernehmen wir Satzfetzen wie "fast Tränen in den Augen".
"Thank you for being the biggest crowd we ever played". Die leider-nur-Vorband Athlete bringen das Publikum dazu, ihre Vinylplatten restlos leer zu kaufen. Simian hingegen beschert dem Team einen Konsens: Keine Emotionen diesmal. Lag vielleicht am großen Nightliner. Danach kleiner Pfeilerunfall mit gesponserten Mietwagen, zum Glück sind wir zu betrunken vom Glück, als dass wir dies registrieren.
links: hannover - ein bild, 60 grad +++ rechts: soulmate - man tanzt
Mittwoch, 27.11.2002
Das Paradoxon des Tages: Heute erwarten wir nichts. Deshalb muss es großartig werden. Hannover, BeiChezHeinz. Das liegt am Fössbad. Wie geil: je weiter wir fahren, desto kleiner werden die Klubs. Und je kleiner, desto mehr Gefühle. Echte Gefühle. Brina vom immer netteren Immergut-Team begrüßt uns rätselhafterweise mit den Worten: "Na, ihr Merchandising Miezen". Wir lächeln verlegen und helfen beim Aufbau. Dann Essen im Fössebad-Restaurant. Ein Hauch Magdeburger Provinz empfängt uns. Die Einheimischen rotten sich gemeindeartig zusammen, essen fettige Pommes mit gelben Plastikgabeln, deren 3 Zinken abbrechen, sobald man sie in eine Brühlette steckt. Dennoch lecker, weil Frühstück früh war. Gleich danach wird unser Film in schönen schwarz/weißen Farben präsentiert. Das Bild hängt lappig wie weißes T-Shirt aus Buntwäsche über einer Leine. Die Hannoveraner sind anfangs irritiert, klatschen dann aber begeistert. Das Paradoxon bewahrheitet sich.
Sometree ist eine dieser Bands, die nicht wissen wie gut sie sind. Sometree ist Warten auf die erlösende Eruption am Ende eines langen Weges. Sie geben dem Publikum alles, keine Show, keine überflüssige Gesten, nur Hoch und Tiefs, Laut und Leise, Stillstand und Extasse. Ja, ich weiß, dass man nicht alles gut finden darf. Dennoch liebe ich auch diese Band. Also, CD kaufen. Am Promotionstand spricht mich eine obskure Mischung aus Tingeltangel Bob und Charles Manson an. Besser: Mit angezogenen Beinen hockt er dort, sondiert mit hektischen Blicken seine Umgebung, ortet mich und bietet an, mich in den Backstagebereich zu bringen. Den Mitbewohner des Schlagzeuger würde der kennen. Tingeltangelmanson macht mir Angst, weshalb Soulmate mir leider entgehen. Stehe nur plötzlich neben dem Gitarristen, der mit irrem Blick in das Publikum rennt. Die Angst kommt wieder, ich lerne mit ihr zu leben. Der Abend wird zur Nacht durch Erlend. Selten habe ich einen DJ erlebt, der auch am dritten Abend dezente Übergänge dermaßen mit Verachtung straft wie er und stattdessen die Pause zwischen den Titeln zum Dogma erhebt. Wir liebkosen dennoch das Licht, als er "Billie Jean" spielt. "West End Girls". Bei "One More Time" die Musik runterdreht und die Vocoderstimme imitiert. Schließlich sind noch etwa zwanzig Leute im BeiChezHeinz, als Erlend seine Gitarre nimmt und in die späte Nacht eine bezaubernde Akustikversion von "Hot In Here" von Nelly spielt. Unsere Herzen umarmen sich und wir alle sind zum ersten Mal eine Familie. Liebe getankt, glücklich geschlafen.
links: brautmoden - immer aktuell +++ rechts: liebhaben - immergut on the block
Donnerstag, 28.11.2002
Berlin ist die Hauptstadt der Republik. Deshalb muss uns ein Klub wie das Magnet eine plüschige Atmosphäre bieten. Macht er, auch wenn Videobeamer plötzlich verschwinden und Aufregung entsteht. Dass alles dennoch super läuft liegt an: Berlin ist nebenbei die heimliche Hauptstadt des Immergutrocken e.V.. So wird der Film diesmal in gemütlicher Homevideorunde vorgeführt. Freunde entdecken Freunde auf der Leinwand und lachen anders als anderswo. Beinahe alle bleiben später sitzen, weil Erlend einen ganz und gar hinreißenden Auftritt spielen wird. Wir haben alle dieses Hippieding und hören einem Mann mit Gitarre, Stimme und einer Botschaft zu. In jeder Hinsicht ein Höhepunkt, auch als Erlend sein Shirt auszieht. Das Publikum schreit entsetzt "Oh, please, no" und er entschuldigt sich galant: "But, it was my mothers vault."
Die diesmalige Vorband John Wayne Shot Me klingen wie Ween aus Niederlande, wenn Bernd Begemann Ozma wäre. Sie spielen in 10 Minuten etwa 40 Songs mit so bezaubernden Titeln wie "Bud Spencer" oder "Sylvester Stallone", was das Publikum sichtlich überfordert. Da die Band aber ihre Niederlage geradezu provoziert, sind am Ende alle zufrieden. "Die machen jetzt Rock mit Eier." Sagt Oliver Koch. Damit meint er zwar Slut, aber auch Miles erfüllen ähnlich konsequent dieses Motto. Alte Songs werden fast ausschließlich verworfen, Rock, Bass, Schlagzeug, kein Piano. Ein Set wie ein Gewitter für das Publikum, viele Blitze, wenig Donner, besonders der Anfang gefällt. Später, in der Disko schnappt sich ein betrunkener Truckerfahrer das Mikrofon und brüllt in Richtung DJ: "Du hast doch einen Waffel, hast du doch." Erlend bedankte sich artig und bittet um Applaus für "Karl Heinz Rumminge". Ein großer Moment. Der 251. dieser Tour. Danach Cateringreste mit den belgischen Freunden von John Wayne plündern, um Geld zu sparen. Ich schließe meine Augen und hoffe, dass sich nichts verändern wird.
links: thess stimmt, reaktion auch +++ rechts: wand - hand
Freitag, 29.11.2002
Landstraßen ergießen sich in Horizonte, alles glänzt nass, aber wir parken auch fast am Meer. Einmal durch Deutschland und zurück. Wie viele nette Clubs hat dieses Land eigentlich? Das Mau gehört dazu, hält die Alternativefahne in Rostock hoch. Auch das Publikum EINZIGartig: Hier hat man das Gefühl, die Entscheidung, zur alternativen Szene gehören zu wollen, sei endgültig und ausschließlich. Und fordert jeden Tag zwei Stunden Kampf auf der Straße. Der Einlass verschiebt sich um drei Stunden nach hinten, beginnt also fast pünktlich mit der ersten Quasi Jonas Revival Band Zero aus Berlin. Danach die großartigen Marr, die das Publikum auftauen und zum Schluss ehrlich überzeugte Zugabeeinforderungen erhalten. Außerdem lobt Sänger Jan Elbeshausen unseren Film, weshalb wir sie auch lieben müssen. Gott sei Dank ein Muss.
Dann das Konzert des Tages, ach was, der Tour, des Jahres. The Fullbliss. Auf der Bühne steht mit David Clemmons ein Musiker, der sein Herz gnadenlos entblößt und dies mit einer eindringlichen Intensität, die im gleichen Moment jegliche Distanz zu sich und seinen Ängsten vermissen lässt und sich dennoch augenblicklich über die damit verbundene Isolation zum Publikum bewusst ist. Seine an Zynismus grenzende Bitterkeit zeigt, wie sehr er seine Lieder liebt, wie leidenschaftlich er sie verteidigt. Doch diese Momente absoluter Ehrlichkeit offenbaren sich nur denen, die direkt vor der Bühne dieses Drama erleben. Zehn ist die Zahl, ich fühle mich wie Tausend. Andere Teile des Teams reagieren skeptischer, aber "Steh zu deinen Bands".
Danach machen wir eine Liste der unmöglichsten Sätze auf dieser Tour.
Platz 3 - "Kannst du meinen Freund noch mit auf die Gästeliste setzen?"
Platz 2 - "Wenn wir um 9 aufstehen, dann können wir schon um 10 fahren."
Unumstrittene Nummer 1 - "Und, welche Note habt ihr eigentlich für den Film bekommen?"
links: meer - fast weltweit +++ rechts: nova international - discokugelsurfing
Samstag, 30.11.2002
Fahren wir richtig ans Meer. Strand, Wind, Wellen. Es ist Mittag und eigentlich wollten wir schon längst in Leipzig sein. Dunkelheit umfängt uns auf der Reise, Regen empfängt uns in Leipzig. Dennoch schaffen wir am letzten Tag das Unmögliche: Vor dem Immergut-Team anzukommen. Ilses Erika ist wie ein übergroßes Omawohnzimmer in einer Puppenstube. Das bezieht sich auf Einrichtung und Größe. Deshalb gibt es heute richtig Gedränge um den Film, wir haben uns heimische Fans eingeladen, die diesen Filmabend zum Besten der Tour machen. Johlen, Lachen, Applaus, diesmal wandert das Frösteln von der Schulter herab.
Teile des Teams lernen Micha und Markus von Nova International kennen. Ich schaue derzeit auf Erlend, der einen zögerlichen Start hinlegt. Das Publikum scheint seine Nervosität zu spüren, unterstützt ihn, greift Rhythmen auf, ist großartig, schickt Steven, den schlechtesten Schlagzeuger der Welt auf die Bühne, um mit Erlend zu trommeln. "A Star in the making", meint der sichtlich gerührte Erlend. Nova bringen später die kochende Sud zum dampfen, Crowdsurfer reißen außer sich Discokugeln von der Decke. Ein würdiger Abschluss. Dann Abhängen mit Freunden, weil Ilses Erika so klein ist, wird alles Backstage. Erlend legt abwechselt Pet Shop Boys und einen seiner Songs auf. Er weiß: "Djing is about to make that one guy the night of his life" Gegen 7.00 Uhr verliert unser Mädchenteam im Armdrücken gegen das Immergutmädchenteam. Trotz Doping.
mitte: alle - wir
[sämtliche Titel: Stefan P./ Fotos: Die Macher / editiert von mathiaz]
Sonntag, 01.12.2002
Abschied. Lecker Brunchen mit warmen Buffet um 15:00 Uhr. Die letzten Polaroids verschießen, Adressen austauschen, ewige Freundschaft schwören. Wieder ist es fast dunkel, als wir uns trennen. Versprechen, Fotos, Videos, Briefe zu schicken. Die Woche nicht vergessen. Teil des Teams werden später von der" geilsten Woche, die ich so hatte" sprechen. Man neigt gerne zu Untertreibungen. Was jetzt bleibt, ist die Erkenntnis: "Auf Wiedersehen, Generation ohne Ärsche, willkommen Lieblingstour."