Jahrelang standen in Deutschland die Menschen am unteren Ende der sozialen Leiter am öffentlichen Pranger. Ekeltriefende Debatten über eine verwahrlosende Unterschicht liefern seit Jahren beliebtes Futter für Feuilleton, TV-Talkshows und Reality Soaps.
Nun scheint sich der Wind zu drehen. Nach monatelangen Schlagzeilen über astronomische Manager-Gehälter, die sowohl von Leistung als auch Erfolg unabhängig zu sein scheinen, stehen jetzt die Höchstverdienenden im Rampenlicht wie nie zuvor. Die schwitzen dort und sehen ziemlich schlecht aus. Denn seit der deutsche Geheimdienst eine gestohlene Datei mit den Schwarzgeldkonten deutscher Steuerflüchtlinge in Liechtenstein gekauft und so mit einem Schlag die Aufdeckung tausender Fälle von Steuerhinterziehung möglich gemacht hat, wird eine neue Eskalationsstufe in der öffentlichen Wahrnehmung erreicht.
Neben Fragen der Verteilungs- und Steuergerechtigkeit, die anhand der Causa nun verstärkt diskutiert werden, gibt insbesondere der öffentlich ausgeschlachtete Fall des Postmanagers Zumwinkel Rätsel auf: "Hat ein superreicher Manager wie Klaus Zumwinkel es nötig, den Fiskus um eine Million Euro zu prellen? Im Verhältnis zu seinem Millionenvermögen hätte der Postchef auf diese eine Million verzichten können - ohne Verlust an Lebensqualität und Wohlstand", wundert sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ihre Antwort auf das Rätsel: "Vom Geld können die Menschen nie genug kriegen. Gier gehört zur menschlichen Natur."
Alles, was nicht auf den ersten Blick erklärbar ist, auf die menschliche Natur zu schieben, ist zwar einfach, aber wenig überzeugend. Nicht zuletzt, weil ja nicht alle Menschen überall sich der Steuerzahlung entziehen, sondern manche tun es, manche nicht. Ein plausiblerer Ansatz ist, dass Menschen ihr Verhalten an den Gepflogenheiten ihres Umfelds ausrichten.
Manager, deren Gehälter in den letzten Jahren regelrecht explodiert sind, wurden mit ihren Einkommen in eine Einkommensliga katapultiert, die von der Durchschnittsbevölkerung meilenweit entfernt ist. Wer wie die deutschen Großunternehmens-Manager im Schnitt 4 Millionen Euro im Jahr verdient, hat zwar im Vergleich zum gesamtdeutschen Durchschnitt ein riesengroßes Einkommen. Aber so jemand vergleicht sich dann nicht mehr mit Durchschnittseinkommen, sondern mit Seinesgleichen, mit den Leuten im eigenen Umfeld. Und das sind eben andere Großverdiener.
Sie bilden heute eine eigene Welt, mit ihren eigenen Maßstäben, so der Wall Street Journal-Journalist Robert Frank in seinem Bestseller "Richistan" von letztem Jahr (auf den auch die Süddeutsche Zeitung heute in Zusammenhang mit der Steueraffäre Bezug nimmt) mit Blick auf die USA. Steuerparadies Liechtenstein ist eine der virtuellen regionalen Hauptstädte dieser elitären Subkultur.
Dank einer Politik, die Reiche begünstigt, dem Boom des Aktienmarkts und weiteren Umwälzungen im Wirtschaftsleben hat sich in den USA die Zahl der Millionäre in den letzten 20 Jahren verdreifacht, so Frank. Nur 3% davon sind die oft im Rampenlicht stehenden Stars, 10% haben ihr Vermögen geerbt. 60% haben ihr Geld aus Aktienbesitz, und 23% aus einem Managementgehalt. Um zu den bestverdienendsten 1% der Bevölkerung zu gehören, braucht man heute doppelt so viel Vermögen wie noch vor 10 Jahren, nämlich 6 Millionen Dollar.
Wer diese Schwelle überschritten hat (oder besser noch, die "wahre" Schwelle von 10 Millionen), der darf sich zum Angehörigen eines exklusiven Clubs zählen, in dem andere Standards herrschen als beim Rest der Bevölkerung. Eine Armee von Butlern und Beratungskräften unterstützt die Wohlhabenden bei der Optimierung der persönlichen Angelegenheiten. Exklusive Bankberatungsdienste, die besonders steuerschonende Varianten im Angebot haben, gehören da zum selbstverständlichen Zubehör. Die Vorstellung, dass dies zu einem Leben in zurückgelehntem Genuss verhilft, scheint allerdings verfehlt. Wer dazu gehört, scheint sich keineswegs auf seinem Reichtum ausruhen zu wollen. Im Gegenteil zeichnet Frank das Bild einer Gemeinschaft von Getriebenen, die in einem endlosen Wettlauf um Status gefangen ist. Mit der immer noch größeren Yacht, dem immer noch gigantischeren Haus, der noch großzügigeren Spende beim Wohltätigkeitsball und der noch exklusiveren Uhr versuchen sich die Superreichen gegenseitig zu übertrumpfen.
Anlass für Mitleid mit den Reichen im Sinne einer "Geld macht gar nicht glücklich"-Philosophie gibt es dennoch wenig, denn die Effekte auf den Rest der Gesellschaft sind gravierender: Im Ausbildungs- und Gesundheitswesen können sich Reiche zunehmend Sonderprivilegien erkaufen, ihre Wahlkampfspenden verhelfen ihnen zu überproportionalem politischen Einfluss, und der Zugang zu exklusiven Beratungs- und Anlagemöglichkeiten verhilft ihnen zu ständig weiteren Möglichkeiten, ihr Vermögen vor dem Zugriff der anderen zu entziehen. Der Luxuswaren-Konsum der Reichen hat zudem neue Konsumstandards etabliert. Die in diesem Wettlauf zurückbleibenden versuchen durch immer mehr Arbeit, mitzuhalten. Und wenn es wahr ist, dass Glück sich durch die relative Position in einer Gesellschaft bemisst, dann lässt der wachsende Abstand der Reichen zum Rest den Rest immer weniger glücklich zurück. Und Richistan, die virtuelle Welt der Reichen, globalisiert sich zunehmend.
Doch nach Jahren, in denen die breite Teilhabe am Reichtum nur noch im Betrachten von Seitenblicke-Medien zu bestehen schien, erreicht jetzt offenbar der in anderen Zusammenhängen so beliebte Vorwurf der Integrationsunwilligkeit zur Abwechslung auch einmal die Spitzen der gesellschaftlichen Pyramide.