Eine Zeit lang war der Patient schon so beunruhigend grün im Gesicht, jetzt kotzt er sich schließlich richtig aus: Die seit dem Sommer 2007 krisengeschüttelten Finanzmärkte haben ein Jahr später einige ihrer größten Stars in den Abgrund gerissen. Führende US-Investmentbanken mussten verkauft werden oder zusperren, der amerikanische Staat musste bislang zwei Hypotheken-Garantiegeber (Fannie Mae und Freddie Mac) sowie einen riesigen Versicherungskonzern (AIG) auffangen. Und ein Ende ist nicht abzusehen.
Von der Party...
Wie konnte es so weit kommen? Mitte der Nuller-Jahre herrschte auf den Finanzmärkten noch Goldgräberstimmung. Es gab Geld en masse, das sich auf die Suche nach ertragreichen Anlagemöglichkeiten begab. Dass die Märkte so "flüssig" waren, hatte vor allem zwei Ursachen. Erstens hatte die Federal Reserve, die US-Zentralbank, nach dem Platzen der New Economy-Spekulationsblase 2000ff. und dem 9/11-Schock ihren Zinssatz stark gesenkt. Damit sollten Kredite billig gehalten und verhindert werden, dass sich die Banken und AnlegerInnen aus Krisenangst in ein Schneckenhaus der Zurückhaltung beim Kredite vergeben und Aktien kaufen zurückziehen.
Zweitens hatten China und andere asiatische Staaten aus der Asienkrise 1997/98 eine wichtige Schlussfolgerung gezogen: Statt ihren Wirtschaftsboom mit ausländischen Krediten zu finanzieren, und sich damit der Gefahr auszusetzen, dass im Krisenfall von einem Tag auf den anderen diese Finanzmittel von den ausländischen Gläubigerbanken wieder abgezogen werden (was eben 1997/98 passiert war), begannen sie auf Teufel komm raus Devisenreserven aus ihren Exportgeschäften zu bunkern - als Schutzwall gegen Währungskrisen. Diese Reserven wurden vorwiegend auf den US-Finanzmärkten veranlagt.
Diese beiden Quellen führten zu einem gewaltigen Pool an Anlagekapital auf dem US-Finanzmarkt, der bald das Angebot an lukrativen Anlagemöglichkeiten überstieg. Wenn es mehr überschüssiges Geld gibt als aussichtsreiche Anlagemöglichkeiten, führt das häufig dazu, dass Kredite auch an SchuldnerInnen vergeben werden, die unter normalen Umständen als nicht kreditwürdig gelten. So entstand der US-Immobilienboom und seine Neuheit, der so genannte Subprime-Markt ("subprime" bezeichnet eine Kreditwürdigkeit unter dem normalen Standard): Menschen, die eher eine Sozialwohnung oder Wohnbeihilfen brauchen würden, wurden Kredite aufgeschwatzt, die auch ihnen den Schüssel zum Traum vom Eigenheim versprachen.
Wie konnten Hypothekarkreditvermittler nur so verantwortungslos sein? War es nicht absehbar, dass die Armen im Subprime-Segment früher oder später in Zahlungsschwierigkeiten kommen würden? Doch, aber die Kreditvermittler kümmerten sich nicht darum, weil sie sich, kaum hatten sie ihre Provision kassiert, der Verantwortung für die Eintreibung des Kredits entledigten. Sie bündelten massenhaft ähnliche Kreditforderungen und verkauften sie weiter. Innovative Finanzinstrumente machten das möglich und versprachen eine Streuung des Risikos. Wenn nicht der ursprüngliche Kreditgeber das Risiko eines Zahlungsausfalls allein trägt, sondern seine Forderung an andere weiterverkauft, wird das Risiko auf mehrere Schultern verteilt und somit insgesamt geringer, so das attraktive Versprechen dieser Finanzinstrumente.
Tatsächlich führte der Weiterverkauf jedoch dazu, dass Leute Ramschkredite kauften, deren riskante Natur ihnen meist gar nicht bewusst war, da sie in komplizierten Finanzkontrakten versteckt waren, die mit Gütesiegeln von Bonitätsprüfern (sog. Rating-Agenturen) versehen waren und besser aussahen, als sie waren.
...in den Absturz
Bald passierte dann das, was unausweichlich passiert, wenn soziale Probleme (in diesem Fall Wohnen für Arme) mit Kreditgewährung an die Betroffenen angegangen werden: Der Versuch, mit den Armen Geschäfte zu machen, fällt auf das System zurück.
Der große historische Präzedenzfall ist die Schuldenkrise der 80er Jahre: Die überschüssigen Einnahmen der OPEC-Staaten aus dem Ölpreishoch der 1970er waren damals bei westlichen Banken veranlagt worden. Auf der Suche nach Kreditvergabemöglichkeiten hatten diese die Entwicklungsländer entdeckt, denen sie massenhaft Kredite geradezu aufdrängten. Nicht immer wurden diese Kredite in produktive Projekte gesteckt. Als dann die Dollar-Zinsen Anfang der 80er rasant anstiegen, konnten viele Staaten ihre Schulden nicht mehr bedienen. Die westlichen Banken saßen plötzlich auf einem gigantischen Berg uneinbringlicher Forderungen, was sie selbst in die Krise stürzte. Damals wäre mehr Entwicklungshilfe statt Kreditvergabe notwendig gewesen. Für die Subprime- KreditnehmerInnen von heute wären Sozialwohnungen und Einkommensstützungen statt Kreditgewährung für ein Eigenheim vonnöten.
In beiden Fällen stürzten die Zahlungsausfälle nicht nur die SchuldnerInnen, sondern wegen ihrem gehäuften Auftreten auch die GläubigerInnen in massive Probleme.
Krisenanatomie
Worin besteht jetzt genau die Krise und wieso dauert sie nun schon so lange? Es handelt sich im Wesentlichen um eine Vertrauenskrise. Im Laufe des Jahres 2007 entdeckten immer mehr Finanzinstitute, aufgeschreckt durch den sich langsam abzeichnenden Einbruch des Immobilienbooms, wie wertlos die Kreditforderungen zum Teil eigentlich waren, die hinter den komplexen Wertpapieren steckten, die sie in der Phase des Optimismus gekauft hatten. Sie versuchten folglich, sie so schnell wie möglich weiterzuverkaufen. Bald fanden sich jedoch keine KäuferInnen mehr für die Ramschkredite, die sich im Branchenjargon zu "Giftmüll" gemausert hatten. Denn mittlerweile waren alle MarktteilnehmerInnen höchst alarmiert, und das Misstrauen weitete sich auf immer mehr Bereiche aus. Jeder hatte den anderen im Verdacht, ihm Papiere anzudrehen, an denen irgendein Haken dran war. Also sank die Bereitschaft zwischen Finanzinstituten, sich gegenseitig Geld zu borgen oder Wertpapiere abzukaufen, dramatisch.
Finanzinstitute sind aber darauf angewiesen, ständig neues Geld ausleihen zu können. Alle sind nämlich Gläubiger und Schuldner gleichzeitig. Den einen borgen sie Geld, von den anderen borgen sie es sich selbst aus. Der Gewinn kommt aus der Vermittlung und der Fähigkeit, all die vielen Bälle ohne Unterbrechung in der Luft und in Bewegung halten zu können. In den letzten Jahren besorgen sich immer mehr Institute ihr Geld auf dem Zwischenbankenmarkt, statt über die Sammlung von Einlagen von SparerInnen. Das war zuletzt billiger und flexibler.
In der jetzigen Situation, wo Banken einander misstrauen und sich nichts mehr borgen, kann es jedoch den Todesstoß bedeuten: Das hat zuletzt das Schicksal der Investmentbanken besiegelt, die wie Bear Sterns und Merrill Lynch verkauft werden oder wie Lehman Brothers Konkurs anmelden mussten. Alle halten mit der Bekanntgabe eigener "Leichen im Keller" so lang wie möglich hinterm Berg, um nicht selbst unter die Räder zu kommen. Und weil alle das voneinander vermuten, hält das Misstrauen an.
Die Ausbreitung des Misstrauens bringt das Kreditkarussell ins Stocken und unterminiert die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Teilnehmenden. So beginnt die verzweifelte Suche nach Rettungsankern: InvestorInnen, die von der Glaubwürdigkeitskrise verschont bleiben, und die maroden Finanzinstitute mit einer Kapitalspritze wieder fit machen könnten. Unter den Finanzhäusern selbst treffen diese Eigenschaften im Zuge der sich wie ein Virus ausbreitenden Krise auf immer weniger Akteure zu. Es sind vorwiegend zwei Geldquellen, die so etwas wie die letzte Hoffnung für ächzende Krisenopfer sind: Zum einen Akteure, deren Finanzierung nicht auf Schulden beruht - chinesische und arabische Staatsfonds, die die Öl- und Exporteinnahmen ihrer Staaten verwalten, zählen dazu. Sie haben sich auch schon in einigen krisengeschüttelten Banken wie UBS und Citigroup eingekauft und sie damit gerettet. Zum anderen ein Akteur, der von der Krise bislang verschont bleibt, weil er eine überragende Kreditwürdigkeit hat: Der Staat. Er sozialisiert die Verluste, indem er mit Garantien, Überbrückungskrediten, und - wenn nichts anderes mehr hilft, wie im Fall von Fannie Mae, Freddie Mac und AIG - mit Verstaatlichung der bedrohten Institute einspringt.
Banken auf Kur?
Dass der Staat, und somit letztlich seine SteuerzahlerInnen, zumindest temporär einspringen muss, um Schlimmeres zu verhindern (v.a. ein Übergreifen der Krise auf andere Wirtschaftsbereiche), muss Konsequenzen haben, so der überwiegende Tenor in der Debatte um die Zukunft des modernen Finanzwesens. Es muss strengere Regeln geben und staatliche Aufsichtsorgane müssen genauer hinschauen, was hinter den Bankschaltern so getan wird. Das ist der Finanzwelt zwar ein Graus, aber das wird wohl der Preis sein, den sie für die Rettungsaktionen zahlen werden müssen.
Was jedoch bislang nicht in Frage gestellt wird, ist der generelle Trend, das Finanzwesen auf immer mehr Lebensbereiche auszudehnen. Der Boom der Subprime-Kredite war kein Einzelfall, sondern nur ein Aspekt einer Tendenz, immer mehr Bereiche des Alltags (in diesem Fall Wohnen) mit dem Finanzwesen zu verknüpfen. So werden Finanzmärkte zu etwas, an denen in immer mehr Lebensbereichen kein Weg vorbei führt. Wodurch Alltagsentscheidungen zu einem zwangsläufigen Einklinken in ein globales Netz finanzieller Verkettungen führen: Vom Versandhandel-Kredit bis zur Pensionsvorsorge, von der Auslandsüberweisung bis zum Häuserkauf auf Hypothek.
Was mit einer unscheinbaren Unterschrift im Wohnzimmer beginnt, taucht eine Reihe komplizierter einfallsreicher Finanztransaktionen später vielleicht irgendwann in den Büchern einer Bank in Übersee auf, die möglicherweise erstmal gar nicht weiß, was sie da gekauft hat. Bis zur nächsten Krise.
Ferdinand Lacina zu Gast bei FM4
Bankenpleiten, Börsencrash und faule Immobilienkredite: Der Ex-Finanzminister und Banker Ferdinand Lacina ist zu diesen Themen am Freitag, 26. September, live zu Gast in FM4 Connected (15-19).