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London/Canterbury | 26.10.2004 | 17:29 
Stadtbrief aus London, Popmetropolitanisches Themsenstrandgut - Booms, Beats und gesalzene Butter.

Fuchs, Blumenau, Smoab

 
 
John Peel, 1939 - 2004
  Vergesst die unzähligen verblichenen Indie-Labels, vergesst die zu Tode ge-relaunchte Musikpresse, vergesst den Untergang der Plattenläden und die ganze restliche Scheiße. Nichts von all dem ist so katastrophal wie das hier: Die Popkultur hat ihre Seele verloren. Ihre Seele hieß John Peel.

Heute hat uns die Nachricht erreicht, dass der ewig größte aller Radio-DJs auf Urlaub in Peru im Alter von 65 Jahren einem Herzinfarkt erlegen ist.
 
 
  Viele, die das lesen, werden aufgrund ihres Alters naturgemäß keine blanke Ahnung haben, wovon hier die Rede sein soll. John Peels Stimme verschwand schließlich vor zehn Jahren mit dem Ende seiner monatlichen Gastauftritte im Ö3 Nachtexpress bzw. mit dem Beginn von FM4 aus dem österreichischen Radio. Die Ironie der Geschichte: Ohne John Peel gäbe es sowas wie FM4 nicht, kein "Alternative", kein "Indie", nichts dergleichen. Wir haben ihm praktisch alles zu verdanken.
 
 
 
  Die Radiokarriere des in Wirral geborenen John Robert Parker Ravenscroft begann Anfang der Sechziger während eines Aufenthalts in den USA nach Beendigung seines Wehrdiensts. Schon damals förderte er in seinen Shows in Dallas, Oklahoma und San Bernardino vom Mainstream ignorierte Bands wie etwa seine große Liebe The Misunderstood. Nach seiner Rückkehr nach Großbritannien begann Ravenscroft unter dem Pseudonym John Peel beim Piratensender Radio London zu arbeiten. Die Gewerkschaftsregeln bedingten damals, dass ein großer Teil der auf den Frequenzen der BBC gesendeten Musik "live" sein musste. Wer Pop-Singles hören wollte, musste sich daher an jene Piratensender halten, die von außerhalb des Hoheitsgebiets rund um die britischen Inseln geankerten Schiffen aus sendeten. 1967 drehte der britische Staat die Piraten ab, und die BBC gründete den Popkanal Radio 1. John Peel war einer der ersten DJs des Senders und blieb ihm bis zu seinem Tod treu. Seine Sendungen waren von Anfang an ein Zufluchtsort dafür, was dem Mainstream zu widerborstig war. Er spielte als erster und oft als einziger die Platten von Leuten wie Jimi Hendrix, Soft Machine, die Fairport Convention oder Captain Beefheart im britischen Radio.

 
 
  In den Siebzigern ließ Peel sich nicht vom Größenwahn des neu entstandenen Rock-Establishments beeindrucken, nicht ohne Grund war er der einzige alte Hippie, den die Punks respektierten, er war schließlich auch der einzige, der Bands wie den Pistols, den Slits, Subway Sect oder Joy Division Airplay bot. Zu Peels Entdeckungen der Achtziger zählten unter anderem die Smiths, The Fall, die frühen Pulp und Billy Bragg, dessen Debüt-Single er - wie so viele andere Platten auch - irrtümlich auf 33 statt 45 spielte. Gelegentliche DJ-Fehler dieser Art, seine grummelige monotone Stimme und ein latenter Hang zur Selbstironie machten Peel bloß noch populärer. Seine jährliche Liste der Festive Fifty, der fünfzig besten Platten des Jahres, galt bis zuletzt als einer der unkorrumpierbaren Maßstäbe dafür, was sich zu hören lohnte. Über vier Jahrzehnte behielt Peel seinen schier grenzenlosen Enthusiasmus für Neuentdeckungen, und seine Show blieb stets die erste Adresse für Demos junger Bands.
 
 
 
 
 
  Aber Peel war nicht bloß der Indie-Papst, er versuchte immer Generalist zu sein, spielte Hip Hop, Drum & Bass, Techno, sogenannte World Music, und um ganz ehrlich zu sein, gegen Ende ging dieser Anspruch nicht mehr ganz auf. Selbst der große John Peel schien in der Flut der Veröffentlichungen dann und wann die Orientierung zu verlieren. Die klassische John Peel-Anekdote, die mittlerweile mit je nach Erzähler wechselnden Beteiligten ins Reich der Urban Myths eingegangen ist, ist die des Jungmusikers, der Peel in einem Provinz-Club sein Demo-Band in die Hand drückt, worauf der DJ ihn am Arm auf den Parkplatz zerrt und ihm seinen randvoll mit Kassetten beladenen Kofferraum zeigt.
 
 
 
  Generationen von Bands nahmen für Peels Sendungen - zumeist in den legendären Maida Vale-Studios - Live-Sessions auf, einige davon (z.B: Nico, Syd Barrett, The Birthday Party, The Wedding Present, Buzzcocks, Joy Division, Gang of Four) erschienen auf dem Strange Fruit-Label. In seinen späteren Jahren moderierte John Peel auch auf dem seriösen Sender Radio Four eine gelegentlich luzide, manchmal eher hausbackene Show namens "Home Truths". Gleichzeitig moderierte er aber auch noch Shows für europäische Radiostationen. Vor ein paar Jahren hatte Peel sein Studio in sein eigenes Landhaus in Suffolk, ironisch "Peel Acres" genannt, verlegt. In einer großangelegten Wahl der "Great Britons" wurde John Peel vor zwei Jahren auf Platz 43 der Liste der größten Briten und Britinnen aller Zeiten gewählt. Ein Verleger soll ihm unlängst einen Vorschuss von 1.6 Millionen Pfund für seine Autobiographie bezahlt haben, die im Jahr 2005 erscheinen hätte sollen.
 
 
 
  John Peels deklarierte Lieblingssingle war "Teenage Kicks" von den Undertones, und ich will hiermit alle LeserInnen aufrufen, diese Nummer aus dem Regal zu holen, downzuloaden, oder aus der Nase zu wuzeln, und sie zum Gedenken an John Peel auf maximaler Lautstärke zu spielen. Selbst wenn er's nicht mehr hören können wird.
 
 
 
Programmänderungen in Memoriam John Peel:
  John Peels Radio Show auf BBC Radio One war von 1989 bis 1994 auch auf Ö3 zu hören, monatlich im im "Ö3-Nachtexpress". Für FM4 hat Walter Gröbchen, damaliger Programmverantwortlicher, ein Porträt der Radiolegende (Erstausstrahlung 2.1.1989, "MusicBox") und die damalige erste Sendung John Peels für den "Nachtexpress" aus dem Archiv geholt und ein paar persönliche Anmerkungen hinzugefügt. FM4 bringt diese Sendungen morgen, am 27.10.2004 - das Porträt läuft in der FM4 "Homebase" zwischen 19.00 und 22.00h, der "Nachtexpress" in Memoriam John Peel wird im Anschluss daran im FM4 Nachtprogramm am Donnerstag, 0.00h ausgestrahlt.
Heute, Dienstag, kommt Walter Gröbchen in die FM4 Homebase, um von John Peel zu erzählen und ausgesuchte und außergewöhnliche Stücke aus den Peel-Sessions zu spielen.
 
 
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