fm4.ORF.at ORF.at login
StreamPodcastsMail an FM4
zurück zur TitelseiteSOUNDPARK - Your Place for Homegrown MusicSTATION - alles rund um den RadiosendernotesCHAT
Wien | 12.4.2008 | 13:49 
Gestalten und Gestaltung. Büchereien und andere Sammelsurien.

Pamela, BorisJordan, Zachbauer

 
 
Die FM4-Bücherei
  Die FM4-Bücherei ist keine herkömmliche Bücherei, in der man Bücher ausleiht, sondern eine, in der Bücher vorgestellt werden.
Der oder die BesucherIn der FM4 Bücherei stellt seine bzw. ihre drei Lieblingsbücher vor, bzw. Bücher, die man durchaus lesen sollte.
 
 
 
Christiane Rösinger
  Die Musikerin, Songschreiberin und Autorin Christiane Rösinger ist zu Gast in der FM4-Bücherei. Diese Frau weiß nicht nur sehr gut über das popkulturelle Leben in Berlin der letzten Jahrzehnte Bescheid, vor kurzem in "Das schöne Leben" erschienen, sondern auch über Bücher. Sie ist nicht nur gelernte Buchhändlerin und studierte Literaturwissenschaftlerin, sondern hat auch in Büchereien gearbeitet. Christiane Rösinger weiß nicht nur, wie man Bücher am besten ordnet, sondern auch, wie man sie säubert - man "schlägt" sie.
Hier Auszüge aus dem Büchereibesuch:
 
 
 
 
 
Iwan Gontscharow: Oblomow
  "Das ist eigentlich mein Lieblingsroman: 'Oblomow' von dem russischen Autoren Iwan Gontscharow aus dem Jahr 1859. Das besondere an dem Roman ist, dass der Held des Romans, Oblomow, fast die ganze Zeit über im Bett liegt. Es kommen ganz verschiedene Leute bei ihm zu Besuch und die sagen dann: 'Oblomow, steh auf! Wir müssen raus zum Katharinenhof die Fürstin Soundso gibt ein Essen.' Er sagt: 'Nein.' Und mein Lieblingssatz ist: 'Bleiben sie weg, sie kommen aus der Kälte.' (...)

Das besondere romangeschichtlich betrachtet ist, dass der deutschsprachige Gesellschaftsroman in der Zeit nie so richtig in die Gänge kam. Wir haben nicht so die großen Erzähler wie die Franzosen, die Russen oder die Engländer. Und in diesem Oblomow erfährt man wahnsinnig viel über die russische Gesellschaft, obwohl er die ganze Zeit nur im Bett liegt. (...)

Gontscharow wollte so einen Antityp zeichnen, der sollte ein Sinnbild sein für die verkommene rückständige russische Gesellschaft. Und der Oblomow hat noch einen Freund, einen Deutschen, der heißt 'Stolz' und das sollte so dieser tätige moderne Mensch sein. In der Rezeption war es aber genau umgekehrt. Alle liebe Oblomow, den Deutschen kann natürlich keiner leiden und Oblomow wird zum großen Vorbild. 'Oblomowerei' ist in Russland sogar zum geflügelten Wort geworden. Das sogar Lenin auf einer Parteiversammlung ausgerufen hat "Es muss endlich Schluss sein mit dieser Oblomowerei in Russland!"
Ich hab mich sehr gut mit diesem Oblomow identifizieren können. (...) Das Buch hat mich sehr beeinflusst. (...) Ich dachte, das gibt's doch nicht - ein Leben im Liegen, das bin doch ich."

 
 
Gottfried Keller: Der grüne Heinrich
  "Das hört sich jetzt ein bisschen überkandidelt an, so nach arger Schullektüre und die Leute haben immer so Vorurteile gegenüber Gottfried Keller. In Deutschland haben wir immer 'Kleider machen Leute' und 'Die Leute von Seldwyla' in der Schule gelesen. (...) Ich hab erst während dem Studium den Grünen Heinrich entdeckt. Das ist ein Desillusionsroman. (...) Ein junger Mann kommt aus kleinen bürgerlichen dörflichen Verhältnissen - aus der Provinz. Er träumt von der großen Stadt, zieht dahin, sucht die Liebe, sucht Erfolg - künstlerisch. Scheitert. Es ist interessant, im 19. Jahrhundert scheitert er immer mehr am Geld, an ökonomischen Bedingungen. Scheitert und bleibt als gebrochene Existenz zurück. (...)

'Der grüne Heinrich' spielt in der Schweiz. Es gibt ganz schöne Kindheitsschilderungen, aber es ist auch schon so ein bisschen der psychologische Roman. Sein Vater war Jäger, der früh gestorben ist, und er kriegt jetzt immer aus diesen Jägerkleidern sowas geschneidert und wird gehänselt. Es geht auch ins Psychologische, wo Keller sagt, wie schlimm diese Verletzungen unserer Kindheit sind und wie wir uns nie mehr davon erholen. (...)

Er will Maler werden (...) und muss die Erfahrung machen, dass er sich nicht richtig verkaufen kann. Dass ihn Leute überholen, die weniger begabt sind als er, aber fleißiger und daran scheitert er ein bisschen. Damit konnte ich mich immer sehr identifizieren."

 
 
Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen
  "Das hab ich erst vor Kurzem entdeckt. (...) Manchmal hat man ja komische Vorurteile nur gegenüber dem Namen. (...)

Das ist ein wahnsinnig lustiges, gut zu lesendes Buch. Es spielt in den wilden 20er Jahren in Berlin. Die Hauptfigur, das kunstseidene Mädchen Doris, ist so ein Mädchen, das wie viele andere von der Provinz nach Berlin gekommen ist und Wunder was erwartet hat. (...) Für mich als Berlinerin ist toll, dass sämtliche Läden in der Friedrichstraße, die man nur aus Filmen kennt, beschrieben werden. Sie ist immer so kurz vor dem Absturz. Es erinnert ein bisschen an 'Berlin Alexanderplatz' von Döblin, nur eben aus einer anderen Perspektive.

Es ist zuerst in einem ganz frischen frechen Plapperton erzählt und sie will immer ein Glanz sein. Sie will ein tolles Leben haben, sie will Glamour. (...) Das Interessante ist, dass es eine Zwischenzone gibt - ist man jetzt schon Prostituiere oder hat man nur einen Freund? Sie lässt sich dann einladen und dann "hach, jetzt hat der Karl für mich bezahlt und dann muss ich doch auch mit ihm ins Bett, das geht doch nicht." Mir hat das so gut gefallen, weil es heute so Romane gar nicht mehr gibt. Heute sind so viele Gegenwartsromane nur Kindheits- und Jugendprobleme von Bürgerskindern. Das aber ist dieses Berlin, wo sich Verbrecher, Zuhälter und kleine Gauner durchschlagen. (...)
Es ist auch sehr prekär. Also zwischendurch leben die Leute außerhalb in irgendwelchen Lauben und Gartenhäuschen, haben es also wahnsinnig schwer. Aber es ist sehr toll zu lesen."

 
 
On Air
  Zu hören ist die FM4-Bücherei mit Christiane Rösinger am Sonntag, 13. April 2008, von 13 bis 17 Uhr.
 
fm4 links
  Die FM4-Bücherei
Zu den bisherigen Besucherinnen und Besuchern zählen Sibylle Berg, Francoise Cactus, Arno Geiger, Christian Kracht, Kathrin Passig, Sven Regener, Christiane Rösinger, Tex Rubinwitz, Rocko Schamoni, Funny van Dannen und Franz Adrian Wenzl.
   
 
back
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick