So phantastisch wie Tilman Rammstedt lügt keiner - vom Westerwald bis China.
Tilman Rammstedt hat uns bereits im Sommer in Klagenfurt begeistert: Der großartige Text von einem Großvater, der von seinen Enkeln zum Geburtstag eine Reise nach Wahl geschenkt bekommt und diese Wahl fällt auf China und nichts anderes. Das will aber sein Lieblingsenkel Keith partout nicht und hat nicht nur immer noch bessere Ausreden, sondern verprasst außerdem das gesamte Reisegeld, dass er von seinen Geschwistern bekommen hat mit seiner Geliebten, Franziska, im Kasino. Franziska war mal eine seiner Großmütter, denn Großvater hatte immer schon eine Vorliebe für junge Frauen, aber das nur nebenbei.
Schließlich fährt der einarmige Großvater alleine los, die 8000 km sind ihm ebenso egal wie die Tatsache, dass er ein miserabler Autofahrer ist. Zweiteres fällt dann eh nicht weiter ins Gewicht, der Großvater kommt nicht allzu weit - denn schon nach wenigen Tagen erhält Keith einen Anruf von einem Spital aus dem Westerwald - der Großvater sei gestorben und er möge bitte umgehend in den Westerwald kommen und ihn identifizieren.
title: Der Kaiser von China - Textstelle artist: Tilman Rammstedt length: 2:09 MP3 (2.071MB) | WMA
Das klingt soweit überwiegend traurig, ist aber so skurril und phantastisch erzählt, dass man immer wieder laut lachen muss. So war das auch in Klagenfurt, wo Tilman Rammstedt die ZuhörerInnen so begeisterte, dass er mit dem Bachmannpreis und dem Publikumspreis ausgezeichnet worden ist.
In Klagenfurt war an dem Punkt aber Pause.
Jetzt gehts weiter.
Keith soll also in den Westerwald fahren und den toten Großvater identifizerien, was ihn in große Verlegenheit bringt, schließlich glauben doch seine Geschwister, dass er und der Großvater in China herumreisen - vom verpassten Geld wissen sie natürlich auch nichts. Also bleibt er im Haus versteckt und beginnt fiktive Briefe aus China an die Geschwister zu schreiben. Unglaubliche Reisedetails werden da erzählt, beeindruckende Leute getroffen, imposante Gebäude gesehen, alle Sinne bedient. China - was für ein Land, welch eine Kultur.
"Wir wohnen im Bamboo Garden, einem gemütlichen und ruhigen Hotel. Die Angestellten sind nicht ganz so zuvorkommend wie gewünscht, das liege aber auch an der Kultur, erklärte mir Großvater. Die Räume sind geschmackvoll dekoriert, Ming-Möbel, ein kleines, aber sauberes Bad, vor dem Fenster viel Grün, allerdings, sagt Großvater, werde das typische Altstadtgassen-Flair etwas eingeschränkt durch den modernen Wohnblock direkt gegenüber. 680 Yuan zahlen wir für das Zimmer, ein mittlerer Preis, das haben wir verglichen."
Das Schöne dran - alles was aus China erzählt wird, hat Tilmann Ramstedt nie vor Ort recherchiert. Er war nie in China, sondern hat alle Infos lapidar aus einem Reiseführer. Auf der letzen Seite des Buches bekennt er:
"Alles, was in den Schilderungen Chinas der Wahrheit entsprechen mag, entstammt dem Reiseführer Lonely Planet China."
Das hat nicht nur funktioniert, sondern ist auch herzerfrischend ehrlich - wieviele Autoren erklären in Interviews mühsam, dass sie alle Passagen, die etwa in Istanbul spielen, auch vor Ort geschrieben hätten und man wünschte sich, sie wären doch lieber beim Türken ums Eck gesessen und hätten auch einfach einen Reiseführer zur Hand genommen und die Szene nochmal überarbeitet. Wie oft Autoren mit dem Reiseführer vor Ort sitzen wollen wir gar nicht wissen ...
Tilman Rammstedt hingegen besorgt sich zwei Reiseführer, wobei er sich letztlich nur für einen entscheidet, schließlich liest er Reiseführer nicht so gern, weil nicht nur viel zu klein gedruckt sondern auch noch viel zuviel Text, ans Anschauen des Beschriebenen gar nicht zu denken. Also entscheidet er sich für den Reiseführer mit noch mehr unglaublichen Alltagsbeschreibungen, denen er sich großzügig bedient und zu den aufgefassten Details auch noch mutig hinzu erfindet.
Im besten Fall wisse der Leser dann nicht, was erfunden ist und was nicht, grinst Tilman Rammstedt.
Letztendlich ist es hier auch völlig egal, denn das, was in dem China erlebt wird, ist so phantastisch und skurril, dass die Realität nur billig verblassen könnte. Mit diesen Lügengeschichten erinnert Tilman Ramstedt gerade im ersten Teil des Buches an David Sedaris oder Bill Bryson in ihren besten Zeiten. Und das ist gerade in der gegenwärtigen deutschen Literatur so erfreulich, dass man "Der Kaiser von China" nur dringend empfehlen kann.